6. Tourwoche: von Münster bis Bonn (20-26.10.2010)

20.10: mein Rad fühlt sich wohl hier, daher einfach nur Münster (10 km Grüngürtel und Stadt) – bei Regen und Sonne

Höhepunkte: Radfahren in Münster ist ein Vergnügen – man merkt an jeder Ampel, wie der Verkehr speziell für Fahrräder geplant wurde; und wenn man mit dem Rad auf Tour ist, erlebt man eine Solidarität unter Radfahrern, die sich überwältigend anfühlt, wenn man an der Ampel stehend von einer 70 Radfahrer starken Menschentraube umgeben ist

Begegnungen: zufällige Radfahrbegegnungen in Münster an der Ampel oder Begleiter für ein Stück meines Weges,  auf die Frage ob sie glücklich seien in Münster: „bei meinem Pharmaziestudium bleibt nicht viel Zeit um die Stadt zu genießen“, „nich so doll, Münster ist einfach zu bieder“, „Freunde zu finden ist so schwer, wenn man hier nicht StudentIn und neu ist“; die letzte Aussage war von einer Auszubildenden bei einem Lebensmittel-Discounter, die nebenher noch im Kasino arbeitet um ein paar Leute zu treffen und für ihr Studium zu sparen; abends war ich in einer WG im Kneipenviertel zu Gast und wurde von einem italienischen Philologen bekocht – sein Mitbewohner ein selbständiger Designer würde, wenn er könnte, einen Rat der nachfolgenden Generationen einsetzen, der ein Vetorecht auf alle Entscheidungen des Bundestages hat

Couchsurfing: siehe bei 21.10, da ich zwei Nächte in Münster blieb

21.10: von Münster nach Essen in die europäische Kulturhauptstadt (85 km) – der Wind bläst in die falsche Richtung, mal sonnig mal regnerisch

Höhepunkte: mein Equipment rockt! auch bei Nässe und Kälte sitze ich mit meiner Funktionsbekleidung von VAUDE noch immer fröhlich auf dem Touringbike von WINORA, das seit 1.800 km einfach wunderbar fährt und keine Schwierigkeiten bereitet (ich hatte noch keinen einzigen Platten) – Vielen Dank; das Fahren in die Industrielle Kulturlandschaft Zollverein, die alten Bergwerke am Wegrand, die Bergbauarbeiter-Siedlungen

Begegnungen: das fiel etwas spärlich aus, da ich bei Gegenwind, Kälte und Regen so langsam nur voran kam – und die Leute bei den Wetterverhältnissen so ungern draußen stehen bleiben; aber morgen habe ich mehr Zeit in Essen und Duisburg und freue mich schon auf die ersten Geschichten aus Nordrhein-Westfalen

Couchsurfing: eine Freundin meiner Schwester hat von dem Projekt erfahren und schrieb mir, dass sie mich gerne in Münster beherbergen würde; zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt sie in der Nähe ihrer Eltern, „weil das sehr viel wert ist mit kleinen Kindern“, dafür nehmen wir sogar in Kauf, dass mein Mann täglich drei Stunden pendelt – das allerdings ist kein Einzelschicksal, wenn man weiß, dass allein die Fahrradstation am Hauptbahnhof mit 3.300 Stellplätzen überwiegend von Berufspendlern benutzt wird
Größere Kartenansicht

22.10 von Essen nach Duisburg (28 km – aber einige mehr bei so oft verfahren) wenig Wind und wenig Regen

Höhepunkte: die Zeche Zollverein und die Ausstellung zur Feier, dass Essen 2010 Europäische Kulturhauptstadt ist; unglaublich viel grün im Ruhrgebiet; schöne Kanäle und gigantische Industrieskelette die mit ihren weißen Rauch schmauchenden Türmen in den Himmel ragen; und ein Treffen mit einem Journalisten der WAZ

Begegnungen: „also eigentlich müsste das Ruhrgebiet ja Emscher-Gebiert heißen“, sagte mir der nette Mann, der mir den Weg an den vielen Industrieanlagen am Kanal vorbei auf die richtige Route zeigte; ein Zivi in Duisburg ist nicht so recht glücklich in der Stadt, weil er vom Land kommt und es schon eine Umstellung bedeutet; zwei junge Damen arbeiten ehrenamtlich an Freitagnachmittagen im Jugendzentrum und wünschen sich bessere Verwendung der öffentlichen Haushalte, mit größerem Schwerpunkt auf soziale Arbeit, Jugendförderung und Integration; abends traf ich einen jungen türkisch-stämmigen in Essen, der sich sehr wohl fühlt in seiner Heimat – wenn er reich wäre, würde er in die Türkei gehen und wenn er etwas ändern könnte, würde er ein paar Stadtteile von Essen noch grüner und schöner machen

Couchsurfing: mal wieder bei einem Pfarrer, diesmal aber im Gästezimmer und wir kennen uns schon seit meiner Zivi-Zeit; es ist immer wieder spannend was O. an integrativen und friedensfördernden Aktivitäten umsetzt; außerdem verstehe ich nun, warum die Regierung die christlichen Wurzeln des Landes nicht betonen kann, ohne nicht gleichzeitig auch die jüdischen Wurzeln zu erwähnen

Größere Kartenansicht

23.10 von Essen nach Wuppertal (30 km) – bei wenig Wärme und viel Regen

Höhepunkte: endlich kenne ich die Bergische Schweiz – und muss sagen, sie ist sehr schön; ich hatte mich zu früh gefreut, denn ich hatte doch einen Platten bekommen – konnte ihn aber im Handumdrehen bewältigen; die heißen Backen, die man bekommt nachdem man sich bei Kälte, Wind und Wetter an der frischen Luft verausgabt

Begegnungen: keine besonderen Vorkommnisse – und über das Gespräch mit meiner türkischen Gastgeberin, berichte ich morgen

Couchsurfing: same same but different – same host, different date
Größere Kartenansicht

24.10 von Wuppertal nach Düsseldorf (31 km) – bei viel Wind und Unwetter, doch ich blieb trocken


Höhepunkte: das Eintauchen in die türkische Community von Wuppertal; die Erkenntnis, dass der Neandertaler aus dem Neandertal, was auf meiner Strecke lag

Begegnungen: gerade im Zentrum von Wuppertal waren die jungen Menschen am Sonntag zur Mittagszeit so beschäftigt, dass sie mich nicht mal sagen ließen, warum ich mit Ihnen sprechen wollte; in der türkischen Gemeinde dagegen, haben die Jungs sogar drei Busse verstreichen lassen um den Fragebogen auszufüllen und mit mir zu diskutieren:

Frage ich: „Was würdest du verändern wollen, wenn du für einen Tag Bundeskanzler wärst?“

Sagt der Eine: „Ich würde machen, dass die Türkei Mitglied in der EU ist, dann könnten unsere Freunde und Familie aus der Türkei einfach zu Besuch kommen“

Sagt der Andere: „hey nee! Es war für uns auch so schon so schwer einen Job zu bekommen. Was glaubst du was passiert, wenn plötzlich noch viel mehr und noch intelligentere Türken als wir ins Land kommen?!“

… sagt der Eine: „also der Sarazzin hätte das Buch nicht schreiben dürfen. Ich habe das Buch nicht gelesen, aber die Thesen sind zum großen Teil einfach falsch“

sagt der Andere: „und deswegen sind Einwanderer nicht einfach alle schlecht. Die Deutschen unterscheiden gar nicht mehr. Ich finde auch, dass man von Einwanderern erwarten kann, dass sie Deutsch lernen und sich integrieren. Aber, das Integrieren wird einem von den Deutschen nicht gerade leicht gemacht.“

sagt der Eine: „und dass wir mittlerweile alle als Terroristen gelten, nur weil wir in die Moschee gehen finde ich auch nicht ok“.

Im Verlauf dieses kurzen Gesprächs liefen ungefähr 40 Leute vorbei, überwiegend türkischer Herkunft, alt und jung, fast die Hälfte der Leute blieb kurz stehen, grüßte mit salam aleikum, aleikum salaam (oder so) und reichte sich die Hand. Da ich mit den Jungen ins Gespräch verwickelt war, wurde auch mir ganz selbstverständlich die Hand gereicht … und gegrüßt wurde ich auf Deutsch. Ich erlaube mir zu behaupten, dass wir einfach zu wenig aufeinander zugehen. Zu einem Dialog gehören immer zwei und man kann nicht sagen integriert euch, wenn man es im Herzen gar nicht zulassen will.

Ein Plädoyer für mehr Dialog: Ich genieße gerade den Umstand, dass ich durch meinen Fragebogen und das Reisen mit dem Fahrrad mit Menschen ins Gespräch komme, was mir im Alltag sonst nicht genauso gelingt. Ich glauben, uns könnte ein bisschen mehr Neugierde füreinander und die Bereitschaft auf andere zuzugehen nicht schaden. Es hat sich übrigens sehr schön angefühlt, wie unsere türkischstämmigen Mitbürger in Wuppertal das friedliche Miteinander und die Gemeinschaft zelebrieren.

Couchsurfing: auch meine Übernachtung war sehr türkisch; das Zimmer meiner Gastgeberin hatte durchaus orientalischen Flair, nur zur Begrüßung gab es keinen Chai, sondern Rheinländer Riesling; auch hier hatte ich ein spannendes Gespräch übers türkisch sein in Deutschland, die Sehnsucht vieler wieder in die Türkei zurückzukehren. Neben der Ausbildung zur Sozialarbeiterin hat sie gerade ihr Abi nachgemacht und möchte studieren. Und Sonntag morgen musste sie zur Arbeit, betreute Wohngruppen benötigen schließlich immer Betreuung.

Größere Kartenansicht

25.10 von Düsseldorf nach Köln (45 km) – goldener Herbst vom Feinsten (während im Allgäu Schnee liegt)

Höhepunkte: die schöne Fahrt am Rhein entlang, bei Sonnenschein und für den Herbst angenehmen Temperaturen; mit dem Fahrrad nach Köln hineinfahren
Begegnungen: „hey lass mich in Ruhe!“ blockte mich der Rennradfahrer erst ab, der mich später freundlich auf seinen verkehrsarmen Geheimwegen zum Rhein führte; „um Deutschland müsste man eine Mauer bauen und alle Ausländer draußen lassen, die Arbeitssituation ist auch so schon so angespannt“ meinte ein Junge, der eifrig einen tiefer gelegten Sportwagen am Rheinufer polierte – auf Nachfrage wurde das Bild etwas differenzierter, denn „es gibt auch gute Ausländer, die Unternehmer sind und Arbeitsplätze schaffen“; zwei sehr optimistische BWL-Studenten genossen am Heumarkt in Köln ihr Feierabendbier – wenn sie etwas ändern könnten, dann wären die Studiengebühren niedriger und würden gezielt für die Verbesserung der Studienbedingungen eingesetzt

Couchsurfing: zwei nette Jungs in der Ackerstraße; schlafen auf einer Couch mit Blick auf die Garnelen im Aquarium und der Möglichkeit mir den Balkon für den Morgentee auszusuchen; auch der Zwiebel-Senfbraten hat sehr lecker geschmeckt

Größere Kartenansicht

26.10 einfach nur Köln und Homeoffice (0 km)

Zu tun: Bewerbungen, Integrationscast, Webseite, Marketing, Bilder, Kommunikation, Vortrag vorbereiten

Couchsurfing: ein junger Gesundheitsmanager, der feststellen kann, wieviel Platz Krankenhäuser benötigen um im OP und allgemein genügend, aber nicht zuviel kostbaren Platz zu haben; Köln ist schön, aber ein wenig näher an der Heimat und den Bergen wäre schon nett; vielen Dank für das außerordentlich leckere Abendessen mit Gratin und Geschnetzeltem

27.10 das ist schon die nächste Woche, da geht es dann über Koblenz in Richtung Pfalz, durchs Saarland und nach Strassburg

1.776 km + 229 km = 2.005 km

Schreibe einen Kommentar