Rücklichter #02: „Darf ich dir noch ein paar Fragen dazu stellen…?“

Jeden Tag eine andere Stadt, jeden Tag neue Leute. Auf der Reise quer durch die Bundesrepublik bin ich in die Lebenswelten junger Deutscher eingetaucht, habe sie Fragebögen ausfüllen lassen und Interviews gemacht. Das hat mich sehr inspiriert. Vor allem ihre Geschichten.

Eine dieser Geschichten möchte ich euch erzählen. Ich traf in Gera den Maschinenbaustudenten Max*. Er war einer meiner Gastgeber. Seine Wohnung war gemütlich und aufgeräumt. Im Flur hingen bunt aneinandergereiht Tabakverpackungen unterschiedlichster Sorten, wie in einem gut sortierten Späti (für alle Nicht-Berliner: Kurzform für „Spätkauf“, ein Laden, in dem man auch nachts noch Genussmittel und Klopapier kriegen kann). „Ich habe alle Sorten schon einmal durchprobiert“, sagte er mit einem Lachen. Guter Stoff für Analogien: Die Offenheit für Vielfalt, in welcher Form auch immer, ist fester Bestandteil beim junge Deutsche-Projekt.

Max hat Freunde eingeladen, drei Jungs, einer anders als der andere. In der Küche ploppen die Bierkorken, blitzschnell vernebelt der Zigarettenqualm unter der Küchentischlampe den Blick. Das Mobiliar erinnert an eine typische alte Kneipe und die Situation hat auch etwas uriges an sich. Die Jungs haben die ideale Stammtischatmosphäre geschaffen. Zeit für mich, an die Arbeit zu gehen. Ideale Voraussetzungen für ein spannendes Interview.

Was ist die perfekte Interviewsituation? Eure Lebenswelt!

„Ach, deswegen hast du uns hierher bestellt, wir sollen Fragebögen ausfüllen!“, ruft einer von ihnen. Spüre ich da Widerstand? Die anfängliche Skepsis ist nichts Neues für mich. Natürlich müssen die Jungs erst mal von mir erfahren, was junge Deutsche für ein Projekt ist. Auch hier fallen Kommentare bezüglich des Namens. Doch sie haben nichts Konkretes gegen den Namen einzuwenden. Er habe Assoziationen in ihnen geweckt, erklären sie. Nach weiteren Hintergrundinfos widmen sie sich voll und ganz dem Fragebogen.

Meine anfängliche Sorge, ich würde sie nicht zum Mitmachen begeistern können, hat sich absolut nicht bestätigt. Skepsis kann unter anderem auch bedeuten, dass die Teilnehmer oft erst einmal irritiert sind. Wenn sie schon an Studien teilgenommen haben, lief das meistens anders ab. Da kam niemand zu ihnen nach Hause und trank Bier mit ihnen, während er einen Fragebogen aus einer Fahrradtasche zaubert. Die Vorgehensweise beim junge Deutsche-Projekt ist ihnen neu. Auch die Art der Fragen ist ungewohnt: „Welche drei Themen haben den größten Einfluss auf dich und deine Lebenssituation? – Das hat mich ja noch nie jemand gefragt…!“
Dann war es wieder still in der Küche und alle in den Fragebogen versunken. Ich war verblüfft, wie schnell diese lebendige, Sprüche-klopfende Truppe zum Schweigen zu bringen war. Dann taten sich wieder erste Lebenszeichen auf, als es darum ging, sich über die unkonventionellen Antwortmöglichkeiten lustig zu machen. Zu Frage 23 – Warum engagieren sich wenig junge Menschen in Parteien: „Da sind nur komische Leute – HAHA, geile Antwort, das kreuz‘ ich an.“, sagt der eine. „Stimmt ja auch – besser hätte man es nicht formulieren können.“, kommt aus der anderen Ecke.
Als sie den Fragebogen ausgefüllt haben, schoben sie ihn mir zu. Es erinnerte mich daran, wie ich in der Schule einen Test ausgefüllt habe und der Lehrerin zur Korrektur zuschob. „Moment – die behaltet ihr mal kurz – darf ich euch noch ein paar Fragen dazu stellen?“

Statistiken zum Leben erwecken bei Bier und Qualm

Erneut fragende Gesichter. Erst fischt sie einen Fragebogen aus der Fahrradtasche und dann will sie auch noch mit uns darüber quatschen? Für so eine Diskussion muss man erst einmal warm werden. Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle:  Es geht um Politik, um die eigene Wahrnehmung, um Zufriedenheit, um eine Meinung. Das ist persönlich, damit rückt man selten in so einer großen Gruppe raus, es sei denn, man kennt sich gut. Diese Jungs kannten sich gut, doch haben sie vorher schon mal über solche Dinge diskutiert?
Ich pickte ein paar Fragen raus, nachdem ich die Einstiegsfrage gestellt habe: Was hat dich besonders beschäftigt, in dem Fragebogen? Noch kam die Diskussion nicht richtig in Fahrt. Doch das dauerte nicht lange. Vor allem bei Gruppeninterviews  sind es manchmal ganz bestimmte Themen, die die jungen Menschen bewegt und das Gespräch zum Leben erwecken. Und wenn man sie gefunden hat, ist es, als hätte jemand ein Ventil geöffnet und alles sprudelt aus ihnen heraus.

Am spannendsten ist der Moment, in dem sie merken, dass die Themen im Fragebogen sehr nah an ihre Realität gehen.

Bei Frage 11, bei der es um Kriterien rund um ihren Wohnort geht, entsteht eine lebhafte, ja sogar emotionale Diskussion. Die Jungs sind viel von Gewalt und Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und einer schlechten Bildungssituation umgeben. „Die Stadt Gera lässt Rockkonzerte von Nazis zu. So kommen Nazis von außerhalb in unsere Stadt. Ich kenne keine andere Stadt, die sich sowas gefallen lassen würde.“, sagt Max. „Als Jugendlicher bist du hier nicht gut aufgehoben – es gibt kaum Angebote. Hier um die Ecke ist eine Disco, da lassen sie auch Minderjährige rein, ohne Zeitbegrenzung. Du hast als Minderjähriger keinen Schutz. Außerdem wirst du überall angepöbelt, auf der Straße, in der Bahn…es reicht aus, wenn du scheiße aussiehst. Als junges Mädchen kannst du abends nicht alleine auf die Straße gehen.“ Die Jungs hatten ein starkes Bedürfnis nach sozialem Zusammenhalt. Daher haben sie ihre eigene Community gegründet. In ihrer aus rund 80 Mitgliedern bestehenden Gruppe werden Freizeitaktivitäten geplant und sie haben sogar eigene T-Shirts mit Logo.

Max hat eine eigene Community gegründet. Bier trinken ist nicht ihre einzige Tätigkeit, aber eine identitätsstiftende.

Die Diskussion ist nun ein Selbstläufer. Die Jungs warten auf meine Fragen, wenn sie ihre Meinung zu einem Thema ausreichend kundgetan haben. Offensichtlich haben sie Spaß daran. Ich auch. Auf absolut lebhafte Weise baut sich vor mir eine Lebenswelt auf. Es ist, als ob ich ein Puzzle baue, zu dem im Sekundentakt neue Teile dazu kommen. Vor meinem inneren Auge entsteht ein Bild, das immer klarer und greifbarer wird.

„Wir haben in dieser Runde vorher noch nie über Politik geredet.“, war Max’ Rückmeldung nach dem Interview. „Es war interessant, auch mal zu hören, was die anderen darüber denken.“
Vielleicht konnte ich damit ja noch die ein oder andere Diskussion ins Rollen bringen…

*Name geändert

 

 

1 Gedanke zu “Rücklichter #02: „Darf ich dir noch ein paar Fragen dazu stellen…?“

Schreibe einen Kommentar