Dieses Interview hat die Redaktion des Demographie-Portals der Bundesregierung von Deutschland mit dem Jugendforscher Simon Schnetzer geführt. Der Artikel erschien am 12.12.2014 und ist im Original hier zu finden: Demographie-Portal – Blog
Jugendforscher Simon Schnetzer: „Junge Menschen wollen vor Ort mitgestalten, aber auf ihre Art“
„Junge Deutsche 2015“ ist die größte aktuelle Untersuchung über das Leben und Erwachsenwerden in Deutschland. Die Ergebnisse wurden am 3. Dezember von Studienautor Simon Schnetzer und dem Pressesprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Franz-Reinhard Habbel auf der Messe „Moderner Staat 2014“ vorgestellt und heute veröffentlicht. Mit den Ergebnissen zu Themen wie Arbeit, Bildung oder Nachhaltigkeit können Firmen und Kommunen junge Menschen besser verstehen und mit ihnen kommunizieren.
Als Herausgeber der Studie gibt uns Simon Schnetzer im Interview Einblicke in die Lebenswelten der 14- bis 34-Jährigen in Deutschland. Was denkt diese Altersgruppe und was ist ihnen in Zukunft wichtig?
Redaktion: Was war Ihre Motivation für die Studie?
Simon Schnetzer: Die Idee zur Studie hatte ich bereits vor vier Jahren. Ich wollte den jungen Menschen in Deutschland eine Stimme geben. Die vom Spiegel damals als „Krisenkinder“ bezeichnete Generation sollte sich selbst äußern, was die eigentliche Krise ist und was man tun könnte, um Deutschland für junge Menschen attraktiver zu machen. 2010 habe ich mich aufs Fahrrad geschwungen, um im ganzen Land junge Menschen zu interviewen. Zusätzlich wurden sie online befragt. Das Ergebnis war die erste Studie „Junge Deutsche 2011“, die erste nationale Erhebung.
Redaktion: Wie ging es dann weiter?
Simon Schnetzer: Seit 2012 ist „Junge Deutsche“ eine Kooperation von meiner Firma Datajockey und der Servicestelle Jugendbeteiligung in Berlin. Wir haben uns zum größten Jugendforschungs- und Beteiligungsprojekt in Deutschland entwickelt. Die Ergebnisse der jetzt veröffentlichten Studie „Junge Deutsche 2015“ über das Leben und Erwachsenwerden junger Menschen in Deutschland basieren auf der nunmehr zweiten nationalen Erhebung.
Redaktion: Was hat sich seit der ersten Studie verändert?
Simon Schnetzer: Mit Hilfe der finanziellen Unterstützung durch das EU-Programm „Jugend in Aktion“, das Land Nordrhein-Westfalen und private Personen mittels Crowdfunding konnten wir unser Konzept erweitern. Im Rahmen der zweiten deutschlandweiten Tour haben wir junge Leute vor Ort beteiligt und mit Workshops dazu qualifiziert, eigene Stadtstudien durchzuführen. Die Frage lautete: „Wie könnte deine Stadt/Gemeinde besser für junge Menschen sein?“ Der Stadtjugendring in Kempten hat zum Beispiel durch die Teilnahme an „Junge Deutsche“ eine eigene Studie „Junge Kemptener“ veröffentlicht und aus den Ergebnissen Wahlprüfsteine als Forderungen an die Politik abgeleitet.
Redaktion: Was macht die Studie so besonders?
Simon Schnetzer: Zunächst einmal unsere Größe. 5.070 Studienteilnehmer zwischen 14 und 34 Jahren haben an unserer Befragung teilgenommen. Zusätzlich habe ich mit meiner Kollegin Diana Rychlik vor Ort 207 persönliche Interviews geführt, um die Antworten aus den Fragebögen besser einordnen zu können. Wir haben damit die größte Datengrundlage über diese Altersgruppe in Deutschland geschaffen. Die Themen der Studie sind vielfältig: Erwachsenwerden, Lebensphasen, Mobilität, Bildung, Arbeit, Vorbilder, Nachhaltigkeit, Regionen im Vergleich, Jugend im ländlichen Raum und Städte bzw. Gemeinden im Jugendcheck. Was bei unserer Studie noch heraussticht ist, dass die Ergebnisse durch die Kombination der großen Online-Befragung und der vielen Interviews eine hohe Aussagekraft besitzen. Tiefe Einblicke in die Lebenswelten der jungen Deutschen sind garantiert.
Redaktion: Was genau meinen Sie mit hoher Aussagekraft?
Simon Schnetzer: Das lässt sich am besten an einem Beispiel erklären: Das Studienergebnis, dass sich 64 Prozent der jungen Deutschen mehr soziale Gerechtigkeit von der Politik wünschen, bedeutet für die einen zum Beispiel weniger Diskriminierung gegenüber Migranten, für andere wiederum anonymisierte Bewerbungsverfahren und für die nächsten die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Diese konkreten Erkenntnisse haben wir erst aus persönlichen Interviews vor Ort gewonnen.
Redaktion: Was beschäftigt die jungen Deutschen?
Simon Schnetzer: Was junge Menschen umtreibt unterscheidet sich stark, weil sie sich in ganz unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenswelten bewegen. Auf der Deutschlandtour habe ich mit Arbeitslosen auf der Parkbank gesessen, bei Hipstern auf der Designercouch geschlafen oder mit Hausbesetzern am Lagerfeuer gesungen und drei Gemeinsamkeiten identifiziert: Junge Menschen leiden zunehmend unter Leistungsdruck und Beschleunigung in der Gesellschaft; sie hegen Misstrauen gegenüber Politikern und Parteien; und sie haben den Wunsch, dass ihre Arbeit Spaß machen soll. Trotz aller Kritik am System engagieren sich nur wenige für politische Veränderung – einerseits glauben sie eh nicht, dass es was bringt und andererseits wollen sie gerne solange Spaß haben wie möglich.
Redaktion: Gibt es Methoden, um diese Verschiedenheit junger Menschen besser zu verstehen?
Quelle: Junge Deutsche 2015 (Bild vergrößern )
Simon Schnetzer: Ja, das Modell der Lebensphasenanalyse. Aus der Marktforschung wissen wir, dass sowohl gesellschaftliche Einstellungen als auch Konsumneigungen sich viel stärker an den Lebensumständen orientieren als an dem Alter: 29 Prozent der Berufstätigen sind finanziell nicht unabhängig; 21 Prozent der jungen Eltern befinden sich in keiner Ehe oder Lebenspartnerschaft; und selbst bei Familien haben nicht einmal 50 Prozent eine private Rentenvorsorge abgeschlossen.
Redaktion: Stichwort Rentenvorsorge: Welche Erwartungen haben die jungen Menschen an die Zukunft?
Simon Schnetzer: Dies ist eine besonders interessante Erkenntnis der Studie: 32 Prozent sehen die Zukunft Deutschlands negativ, 41 Prozent positiv und 24 Prozent sind unsicher. Es gibt viele junge Menschen, die sich als Weltbürger verstehen und sollten die Probleme in Deutschland einmal zu groß werden, dann suchen sie sich einfach einen besseren Ort. Diese Einstellung ist ziemlich typisch für den pragmatischen Individualismus, den so viele junge Deutsche leben.
Redaktion: Sich als Weltbürger zu verstehen ist die eine Sache, doch welches Verhältnis haben die jungen Menschen zum ländlichen Raum?
Simon Schnetzer: Es gibt viele junge Deutsche, die gerne im ländlichen Raum leben würden, es aber nicht tun, weil sie in ihrer Heimat keine Perspektiven haben. Die Studienteilnehmer aus den Dörfern und kleinen Städten schätzen ihren Wohnort, weil sie dort Natur, Gemeinschaft, Ruhe und Nähe zu Freunden haben. Was sie am Leben im ländlichen Raum stört, sind die schlechten Freizeitmöglichkeiten, die mangelhafte ÖPNV-Anbindung, die Abhängigkeit vom Auto und die Tratscherei der Leute. Für Landbewohner ist das eigene Auto allerdings immer noch der Inbegriff der Freiheit. Obwohl sie in kleinen Orten leben, sagen 64 Prozent der jungen Leute im ländlichen Raum, dass sie (fast) keinen Einfluss auf die Politik an ihrem Wohnort haben. Das ist schade, denn 80 Prozent von ihnen sind der Meinung, dass die Politik die Interessen der Jungen nicht ausreichend vertritt.
Redaktion: Die Ergebnisse haben Sie in einem Workshop Gemeinden und Politikern vorgestellt. Was können kommunale Entscheidungsträger vor Ort besser machen, um auf die Bedürfnisse junger Menschen einzugehen?
Bild vergrößern Quelle: www.lucamercedes.com
Simon Schnetzer: Ich möchte Politikern und kommunalen Entscheidungsträgern drei Tipps geben, die auf den Erfahrungen der zahlreichen Jugendforschungs- und Beteiligungsprojekten meiner Firma Datajockey basieren:
- Raum zur Entfaltung
- Anerkennung für Gründer
- Aufzeigen von Perspektiven
Das mag banal klingen, doch unsere Erfahrung ist es, dass junge Menschen sich in veralteten Strukturen bewegen sollen. Gibt man ihnen Raum, Anerkennung und Perspektiven, passieren die tollsten Sachen. Beispiele hierfür sind die Gründervilla in Kempten, das Jugendcoaching-Projekt „Rock Your Life“ oder die partizipative Befragung in Görlitz im Rahmen von „Junge Deutsche“ und deren Wirkung. Am Ende des Workshops ließen Bürgermeister sich das Konzept der Gründervilla im Detail erklären und hatten sofort ein schönes leerstehendes Objekt im Auge, das durch die Belebung mit Gründerkultur ihre Stadt oder Gemeinde attraktiver machen könnte.